Hans Erik Deckert
Zu hoch, zu schnell, zu laut
Misslichkeiten in unserem Musikleben
„Klassische Musik ist jetzt etwas Besonderes, wie Griechisch oder präkolumbianische Archäologie, sie ist kein gemeinsames Kulturgut mehr im Prozess gegenseitigen Verstehens und als Element komprimierten psychologischen Ausdrucks“, so der amerikanische Philosoph Allan Bloom in seinem 1987 erschienenen Buch „The Closing of the American Mind“. 2014 wurde die dänische Übersetzung dieses Buches neu aufgelegt und erhielt folgenden Kommentar in einer Rezension: „Allan Blooms außerordentliche Abhandlung über den Bildungsverfall hat seit ihrem erstmaligen Erscheinen nichts an Aktualität eingebüßt.“
2013 gab es Pläne, die herkömmlichen Studiengänge der Musikhochschule in Mannheim zu schließen. Es gab landesweit massive Proteste, die glücklicherweise zur Aufgabe des Vorhabens führten. In einem Statement hierzu schrieb ich abschließend: „Es geht um die Musik des Geistes. Soll dieser Kern des Menschlichen durch die Musik der körperlichen Begierden vergiftet werden? Soll dem platten Unterhaltungsbedürfnis, angefacht durch die materialistische Diktatur, stattgegeben werden? Die Politiker, die die Musik als geistige Realität ignorieren, wissen nicht, was für ein Zerstörungswerk sie anrichten.“
2014 wurde erstmals in Dänemark ein Sinfonie-Orchester aufgelöst. Auch hier gab es landesweit Proteste, jedoch bislang ohne Erfolg.
Dies nur als aktuelle Beispiele für die zunehmende Gefahr der Gettoisierung unseres Musiklebens. Angesichts dieser Tendenzen sollten wir als Musiker uns die Frage stellen, inwiefern wir selbst einen Beitrag zu einem musikalischen Bewusstsein leisten können, das die Dimension des Unbegreiflichen wiederum in den Mittelpunkt unseres Wirkens stellt. Was können wir – musizierend oder unterrichtend – ausrichten, damit der Mensch die Musik als geistige Realität erleben kann? Noch gibt es unzählige sprießende musikalische Oasen in unserer Welt. Jedoch sind auch Misslichkeiten in unserem Musikleben erkennbar, die für ein identifizierendes Musikverständnis nicht förderlich sind. Es ist der zu hohe Kammerton, die oftmals inflationären Tempi und die nicht selten ohrengefährdende Lautstärke.
Der Kammerton
Im Jahre 1885 wurde der Kammerton a¹ auf einer internationalen Konferenz in Wien auf 435 Hz festgesetzt. Sowohl Verdi als auch Brahms waren zugegen auf dieser Konferenz. Im Jahre 1939 erhöhte man auf einer Konferenz in London den Kammerton auf 440 Hz. Heutzutage liegt der Kammerton bei mindestens 442 Hz, reell jedoch wird vielerorts bis zu 445 Hz gestimmt. Kaum jemand hinterfragt diese Praxis. Es hängt letztendlich zusammen mit der heutigen Grundstimmung der Instrumente des Sinfonie-Orchesters. Abgesehen davon, dass vor allem die Sänger extrem von dieser Erhöhung betroffen sind, muss gefragt werden, inwieweit dieser hohe Kammerton als menschengemäß anzusehen ist. Ist es überhaupt möglich, eine derartige Frage zu stellen?
Im Jahre 2013 wurde in Kirchzarten bei Freiburg ein Symposium „Kammerton 432 Hz“ veranstaltet. In der Einladung zu diesem Symposium heißt es unter anderem:
„Wussten Sie, dass unser Körper und seine Zellen auf dem Grundton 432 Hz schwingen? Töne in genau dieser Frequenz können deshalb unsere Zellen harmonisieren und unseren Körper besonders gut in seiner Heilung unterstützen. 432 Hz kann auch unsere Gehirnhälften ausgleichen, was seelische Stabilität bewirkt und die spirituelle Weiterentwicklung verstärkt. Und noch mehr: Über den Sonnenton 432 Hz gelangt unsere DNA in Resonanz mit der Phi-Spirale der Natur, die wir in fast allen Formen des Lebens wiederfinden. Ein wunderbarer Weg also über die Musik mit dem Kosmos in ´Ein´-Klang zu kommen. Ist der Mensch richtig ´gestimmt´ – ist sein Leben auch stimmiger. Die gesundheits-, kunstfördernde und therapeutische Wirkung des 432 Hz Kammertons ist vielfach erforscht und bewiesen.“
Teilnehmer des Symposiums waren Ärzte, Musiker, Therapeuten, Physiker und Psychologen. In zahlreichen Vorträgen wurden die Beziehungen zum Kammerton 432 Hz beleuchtet. Der namhafte Dirigent und Musikwissenschaftler Nikolaus Harnoncourt äußerte:
„Die große Ausrede ´Es geht nicht, der notwendige Wechsel der Instrumente sei nicht verkraftbar´, diese Ausrede kann einfach nicht mehr akzeptiert werden. Die Bläser wechseln ohnehin ihre Instrumente laufend, das kann ja einmal organisiert gemacht werden. Das Ergebnis würde es hundertfach lohnen: Die Soprane und die Tenöre könnten 10 Jahre länger singen. Die Musik würde ´entschrillt´, also wieder ihre Natürlichkeit und Lockerheit gewinnen. Man darf nicht die ernsten Mahnungen, Bitten und Forderungen der Komponisten – Verdi, Brahms etc. – der unzähligen Sänger und Instrumentalisten nachhaltig ignorieren. JETZT wäre der mutige Schritt zu machen! JETZT!“
Dieses Symposium war keineswegs einmalig. Immer wieder gab es Initiativen zur Senkung des Kammertons. Bereits Verdi forderte den Kammerton 432 Hz für Italien und schrieb diesbezüglich einen Brief an die italienische Regierung. Auch Rudolf Steiner empfahl mehrfach den Kammerton 432 Hz.
Ich selbst bin mit dem Kammerton 435 Hz aufgewachsen. Als ich dann im Jahre 1947 mein Studium an der Kopenhagener Musikhochschule begann, wurde ich unverhofft mit dem Kammerton 440 Hz konfrontiert. Eine lästige Umstellung ohne absehbares Ende war die Folge. Beethovens ´Eroica´ steht in Es-Dur. Ich höre diese Sinfonie heute in ´E-Dur´. Mendelssohns Violinkonzert steht in e-Moll. Ich höre heute dieses Konzert in ´f-Moll´. Selbstverständlich ist diese Problematik durch die Fähigkeit des absoluten Gehörs beeinflusst. Hierbei wäre jedoch zu überlegen, ob diese Fähigkeit eventuell eine Beziehung zum Kammerton 432 Hz aufweist.
Man kann fragen, warum der Kammerton unseres Musiklebens so überzogen ist. Die Antwort wird der Hinweis auf die erhöhte Brillanz des Klanges sein. Ein bestechendes Argument. Hier erhält ein äußerer Effekt die Priorität. Die eigentliche Aufgabe der Musik wird dabei vernachlässigt.
Das Tempo
Es ist eine Tatsache, dass Musik heutzutage meistens schneller gespielt wird als in früheren Generationen. In meiner Jugend benötigte man vier Stunden für die ungekürzte Aufführung der Matthäus-Passion von Bach. Heute liegt die Aufführungsdauer nicht selten bei etwa drei Stunden. Warum? Sind unsere Ohren so versiegelt, dass wir nicht mehr in der Lage sind, objektive musikalische Gesetzmäßigkeiten zu erkennen? Was ist denn unter objektiven musikalischen Gesetzmäßigkeiten zu verstehen? Liegt dahinter etwa ein getarnter Versuch, eine persönliche Tempowahl als obligatorisch zu deklarieren?
Als ich in meinen jungen Jahren die Cello-Suiten von Bach erarbeitete, erprobte ich die Tempofindung der verschiedenen Sätze einerseits durch ´zu schnelles´, andererseits durch ´zu langsames´ Spiel. Bei einem ´zu schnellen´ Tempo gelang unschwer der Überblick, das Erlebnis des Ganzen. Bei einem ´zu langsamen´ Tempo erhielt ich die Möglichkeit, mich in die Einzelheiten zu vertiefen. Somit erreichte ich auf der einen Seite Überblick auf Kosten der Details, auf der anderen Seite Details auf Kosten des Überblicks. Die Aufgabe war nunmehr die Schaffung eines Gleichgewichts zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen. Die Entfaltung des Details benötigte den entsprechenden Zeitrahmen, jedoch ohne den ´Roten Faden´, die Voraussetzung für das ´Verständnis´ der Musik, zu vernachlässigen. Auf dieser Basis erforderten Sätze mit ´kompakterem´ Aufbau ein langsameres Tempo, wohingegen Sätze mit zügiger Struktur ein schnelleres Tempo beanspruchten.
Die Hauptursache der oftmals inflationären Tempi unseres Musiklebens ist die Nichtbeachtung der vielfältigen Aussage des musikalischen Details. Man bevorzugt das äußere stromlinienförmige Event, das nicht selten zu einem Blendwerk degeneriert. Der Zuhörer wird zwar mitgerissen, aber geistig im Stich gelassen. Dies mag verschiedene Gründe haben. Allzu oft fehlt einfach die Probezeit zur Vertiefung in die Substanz eines Meisterwerks. Dies ist schon tragisch genug. Es kann jedoch ebenso gut fehlende Motivation, Unterschätzung der musikalischen Tiefendimension oder letztendlich schiere musikalische Ignoranz sein. Die Nichtbeachtung der Elemente, die ein nachhaltiges musikalisches Erlebnis initiieren, kann unserem zukünftigen Musikleben zum Verhängnis werden!
„Ich fühle mich gestresst“, lauteten mehrere Kommentare nach einer Aufführung der Matthäus-Passion von Bach im Jahre 2014. Wenn das Finale der ´Kleinen Nachtmusik´ durch Geschwindigkeitsrekorde gekennzeichnet ist, wenn Richard Wagners ´Siegfried-Idyll´ heutzutage in 15 Minuten bewältigt werden kann anstatt der 30 Minuten, die Wagner selbst benötigte, dann ist die innerlichste Kunst des Menschen verraten. Sie gerät zur Sinnlosigkeit. Als ich einmal nach der Aufführung einer Brahms-Sinfonie die überzogenen Tempi beanstandete, erhielt ich die Zurechtweisung: „Wir bewegen uns heute nicht mehr mit der Pferdekutsche, sondern mit dem Auto, mit der Bahn und dem Flugzeug.“ Sollen wir denn heutzutage schneller spielen, nur weil wir mittlerweile in der Lage sind, in wenigen Stunden die entferntesten Ziele unserer Erde zu erreichen? Oder sollen wir etwa, als ein mögliches Gegengewicht, nur noch mäßige Tempi gelten lassen, allein der Langsamkeit zuliebe? Ein solcher Gedanke erweist sich, bezogen auf die Musik, als eine Abstraktion. Sind wir nicht in der Lage, die uns zur Verfügung stehende Zeit musikalisch zu bereichern, so sind wir auf dem Holzweg.
In dem Augenblick, wo ein Tempo ´verstanden´ und ausgefüllt ist, können wir zutiefst von der Dimension der Unbegreiflichkeit überwältigt werden. Es kann ein charakteristisches Thema sein oder vielleicht nur ein einprägsames Intervall. Es kann ein spannungsgeladenes harmonisches Geschehen sein, ein identifizierendes rhythmisches Motiv, die ´Individualität´ einer Tonart, der Farbenreichtum einer Modulation oder das polyphone Geflecht innerhalb einer vielstimmigen Hierarchie. Die Musik befähigt uns, aus der Zeit herauszutreten und eine Ahnung der Sphärenharmonie, der Ewigkeit, wahrzunehmen.
Nun könnte man meinen, dass die eventuell angegebene Metronom-Zahl ein Garant des Tempos sei. Abgesehen von den mehreren Faktoren, die die Unsicherheit solcher Angaben begründen, soll hier ein flagrantes Beispiel derartiger Unzulänglichkeiten erwähnt sein. Als Strawinsky im Jahre 1959 in Kopenhagen einen hoch dotierten Musikpreis entgegennehmen sollte, spielte die ´Königliche Kapelle´ (das Sinfonie- und Opern-Orchester in Kopenhagen) die Ballett-Suite aus dem ´Feuervogel´ unter der Leitung des Komponisten. Ich war damals Mitglied dieses Orchesters. Es erbot sich mir die Möglichkeit, die Metronom-Angabe des Komponisten ´nachzuprüfen´. Dies geschah mittels eines lautlosen Metronoms und einer Studienpartitur, angebracht unter meinem Sitz während einer Probe. Das Resultat ergab sich wie erwartet: Nicht eine einzige Metronom-Angabe entsprach der Wirklichkeit!
Bekanntlich verwarf Beethoven in seinen letzten Lebensjahren das Metronom, nachdem er vorher – im zweiten Satz seiner achten Sinfonie – dem Erfinder des Metronoms, Johann Mäzel, ein tönendes Loblied dargebracht hatte. Jetzt bekannte er: „Man muss das Tempo erfühlen.“ Hier erhalten wir die ultimative Antwort auf die Frage nach dem jeweiligen Tempo! Dies allerdings unter der Voraussetzung der optimalen Aneignung der Substanz des betreffenden Werks.
Auch hier kann man fragen, warum unser Musikleben durch die Tendenz inflationärer Tempi geprägt ist. Die Antwort wird der Hinweis auf die beispiellose technische Perfektion der heutigen Klangkörper sein. Wiederum ein vordergründiges Argument. Wiederum erhält ein äußerer Effekt die Priorität. Die eigentliche Aufgabe der Musik wird dabei versäumt.
Die Lautstärke
Es gehört schließlich zu den Misslichkeiten unseres Musiklebens, dass auch das Klangvolumen unserer Instrumente eine bedeutende Steigerung erfahren hat. Eine Posaune klingt beispielsweise heute doppelt so laut wie vor 50 Jahren. Hier erhebt sich die Frage, was letztendlich unserem Gehör zuzumuten ist. Ist es nicht geradezu pervers, mit Gehörschutz zu musizieren und somit eine autistische Gesinnung zu fördern anstatt der gemeinschaftsbildenden Kommunikation unter den Musikern?
Im September 2013 spielte das französische Orchester ´Les Siécles´ unter der Leitung von François-Xavier Roth in Frankfurt (Main) anlässlich des hundertsten Jahres der Uraufführung Strawinskys ´Le Sacre du Printemps´ in der klanglichen Urversion von 1913. Also ´Sacre´ mit französischem Bläserklang von damals und darmsaitenspielenden Streichern. Vorher hatte der Dirigent gewarnt: „Ich glaube, ´Sacre´ auf Instrumenten der damaligen Zeit wird für diejenigen, die das Werk kennen, ein Schock sein.“ Und ein Rezensent fügte hinzu: „Man musste darüber schockiert sein, dass man dieses Stück zuvor immer nur monochrom gehört hat, nie in Farbe.“ Später heißt es: „Bislang kannte man ´Sacre´ als ein hartes, mitunter brutal kantenreiches Stück, in dem es fast nur um Rhythmus zu gehen schien. Les Siécles zeigte jetzt: Aufgrund der Darmsaiten der Streicher kann es auch warm klingen, und durch die verschiedenen Charakteristika der Bläser setzt es geradezu einen Farbrausch frei.“ Ein weiterer Rezensent hebt die Transparenz und die Differenzierung des Klanges hervor.
Die sogenannte historische Aufführungspraxis hat mit diesem Konzert das 20. Jahrhundert erreicht. Solange diese Konzertform nicht lexikale Referate beinhaltet, kann sie eine Inspiration und womöglich eine nachhaltige Bereicherung unseres Musiklebens sein, nicht zuletzt als Memento, dass die angemessene Lautstärke eines Klangkörpers einen entscheidenden Einfluss auf ein vertieftes Musikerleben haben kann, jenseits aller oberflächlichen Reize.
Ich erinnere mich noch an den Klang der Berliner Philharmoniker unter Furtwängler in der alten Philharmonie in Berlin. Später erlebte ich die Münchner Philharmoniker unter Celibidache. Unvergesslich die phänomenale Ausgeglichenheit der Bläser in einer Bruckner-Sinfonie, die durch diesen Dirigenten zustande kam – ein Reichtum ohnegleichen und vor allem nie zu laut!
Ich selbst hatte meinen Platz im Orchestergraben der Kopenhagener Oper und spielte Wagner und Verdi – hinter mir saß die erste Posaune! Dies war keinerlei Problem. Ich erlebte Sternstunden mit der ´Königlichen Kapelle´, so die ´Eroica´ unter Klemperer und Bartóks ´Konzert für Orchester´ unter Fricsay. Niemals fühlte ich mich belästigt durch die Lautstärke des Orchesters. Man spielte damals weder mit Gehörschutz oder mit Schutz-Vorrichtungen innerhalb des Orchesters. Heute ist es nicht selten, dass Tinnitus oder andere gesundheitliche Schäden, bedingt durch die Lautstärke, bei einem Orchestermusiker schlimmstenfalls zur Aufgabe des Berufes führen können.
Wiederum ist zu fragen, warum wir mit einem Klangvolumen konfrontiert sind, das ein gesundheitliches Risiko birgt. In der Rockmusik ist die Lautstärke mehr oder weniger eine Bedingung für die Existenz dieser Gattung, weil sie in der Lage ist, die unverzichtbaren ´high´- Zustände auszulösen. Das euphorisierende Element ist hier ein dominierender Faktor. Dieser Faktor schwächt jedoch die Möglichkeit des Menschen, die Transzendenz der Musik zu erfahren. Ist unser Musikleben inzwischen durch vordergründige Power-Attitüden infiziert? Abermals erhält ein äußerer Effekt die Priorität. Die eigentliche Aufgabe der Musik wird dabei verleugnet.
Die up to date-Ideologie
Das obengenannte Zitat von Allan Bloom „Klassische Musik ist jetzt etwas Besonderes, … sie ist kein gemeinsames Kulturgut mehr…“ kann ein geeigneter Anlass für Initiativen sein, die Musik wiederum als Allgemeingut zu verstehen. Eine Vielzahl zukunftsträchtiger Impulse zur Wahrnehmung der angeborenen Musikalität des Menschen versucht hier ein Gegengewicht zur utilitaristischen Gesinnung unserer Zeit aufzubauen. Wohlmeinend ist unter solchen Initiativen zweifellos die Tendenz, Altbekanntes zu ´erneuern´, sodass es dem heutigen Stand eines vermuteten Bedürfnisses entspricht. Zu fragen ist jedoch, ob ein derartiges up to date-Bestreben in Wirklichkeit nicht Aufbau, sondern Abbau bewirkt. Soll der Mensch sich ´hinaufentwickeln´ zum Unfassbaren oder soll das Unfassbare entwertet, ´herunterkatapultiert´ und hernach als billiges Konsumgut ´verkauft´ werden? Im Folgenden seien ein paar Beispiele einer solchen up to date-Ideologie genannt.
Der österreichische Komponist Thomas Mandel ist der Ansicht, dass es unzeitgemäß ist, Bruckner-Sinfonien in der originalen Tonsprache zu hören. Sie müssen in eine Ausdruckform ´übersetzt´ werden, die unserer Zeit entspricht und somit den heutigen Menschen erreichen. Für Thomas Mandel ist diese Ausdrucksform der Jazz. „Ich komponiere Jazz-Versionen der Bruckner-Sinfonien. Es geht darum, das einst bestürzend Neue in Bruckners Musik mit zeitgemäßen Mitteln für uns Heutige überhaupt wieder erfahrbar zu machen… Nur eine Transformation der Zeichen selbst eröffnet zumindest die Möglichkeit der Annäherung an die Werke von damals.“ Die bisherigen Ergebnisse dieser Bestrebungen sind auf CDs als „bruckner V improvised“ und „bruckner VII translated“ erschienen.
Vor einiger Zeit fand ich im Internet den Aufsatz „Herunter! Herunter!“ des Journalisten und Schriftstellers Michael Klonovsky. Hier werden mit unverblümten Äußerungen die vielerorts provokanten Opern- und Theater-Inszenierungen unter gnadenlosen Beschuss genommen. Einleitungsweise heißt es in diesem Aufsatz: „Gehören Sie auch zu denjenigen, die jedes Mal mit einem flauen Gefühl in die nächste Theater- oder Opernaufführung gehen, weil Sie sich fragen: Was wird der Regisseur sich diesmal wieder für einen Unsinn ausgedacht haben? Dann sind Sie hier richtig.“ Hier folgen einige Auszüge aus diesem Aufsatz:
„Regietheater ist ein Schlagwort aus der Theaterkritik, entstanden in den 70er Jahren, damals noch oft mit negativem Zungenschlag. In jüngerer Zeit wird der Begriff eher mit positiver Konnotation verwendet. Es heißt, die Werke der Vergangenheit müsse man neu deuten. Das heutige Publikum sei anders sozialisiert als das Publikum zur Zeit der Uraufführung. Was die Oper angeht, mag damit wohl gemeint sein, dass im Zuschauersaal inzwischen überwiegend Leute sitzen, die keine Noten lesen können, was sich gut damit verträgt, dass es die meisten Regisseure auch nicht können; deshalb geht man sich heute ja eine Oper eher anschauen. Und dann muss natürlich ein bisschen was passieren auf der Bühne, Scarpia in der ´Tosca´ etwa als Pinochet-Scherge (wie in Darmstadt), Don Giovanni im Beichtstuhl kopulierend (so in Essen), oder ein Lohengrin und Elsa als Eigenheimbauer (in München).“ An anderer Stelle heißt es:
„Der Regisseur hat mehr zu melden als der Autor, Werktreue ist eher unwichtig, und handle es sich auch um Werke von Shakespeare oder Richard Wagner.“ Michael Klonovsky fragt sodann: „Was aber treibt Regisseure dazu, in Vollendungsnähe angesiedelte Werke zu ´aktualisieren´, das heißt zu ´korrigieren´, das heißt zu ´destruieren´, das heißt letztlich abzuräumen? Warum müssen Inszenierungen immer hässlich und oft zwanghaft durchsext sein? Warum muss jeder König oder Herrscher als Debiler auftreten, warum jeder Held zum Antihelden werden, warum geht es selten mal ohne nackte Darsteller, ohne Sperrmüllsofas, ohne SA-Uniformen, ohne Blut und Kotze?“
Es scheint unmöglich, die Verstümmelung unserer Kultur aufzuhalten. Der geistige Umweltschutz ist hilflos jeder Willkür ausgeliefert. Es liegt an uns, sich denjenigen Kräften zu stellen, die unsere Wertvorstellungen infrage stellen. Jeder von uns ist auf sich selbst gestellt. Jeder von uns hat aber auch die Möglichkeit, schützend und aufbauend einzugreifen, wo es sinnvoll erscheint. Und so darf im Namen der musikalischen Kunst gehofft werden, dass wir zukünftig nicht mehr zu hoch, zu schnell und zu laut musizieren.
„Musik ist nicht reizvoll, sondern eine einmalige Gelegenheit, vom Vergänglichen zum Ewigen zu kommen.“ (Sergiu Celibidache)
Quellen:
Allan Bloom: The closing of the American mind, Neuausgabe 2012, Simon & Schuster, New York. Deutsche Ausgabe: Der Niedergang des amerikanischen Geistes, 1988, Verlag Hoffmann und Campe.
Symposium Kammerton 432 Hz, Kirchzarten, 9.-10. März 2013
Les Siécles – Rite of Spring (youtube)
Thomas Mandel: Neue Musikzeitung, Oktober 2011
Michael Klonovsky: „Herunter! Herunter!“ (michael-klonovsky.de/artikel/item/104-herunter-herunter)